Marokko

Erdbeben in Marokko: Psychologische Unterstützung für die Opfer ist ab sofort unerlässlich

Die von den Teams des Netzwerks Médecins du Monde und seinen Partnern organisierte Evaluierungsmission findet seit mehreren Tagen in Marrakesch und in den Dörfern statt, die am stärksten von dem Erdbeben am 9. September betroffen waren. Sie soll die psychosozialen Bedürfnisse der Bevölkerung ermitteln, liefert aber bereits eine direkte Antwort, um mit der Arbeit an den Symptomen zu beginnen.

Maroc, septembre 2023

Während die lokalen Partner auf die Grundbedürfnisse (Nahrung, Unterkunft, Hygiene, Sicherheit usw.) eingehen, unterstützen die Teams von Médecins du Monde sie bei den psychologischen Bedürfnissen in Notsituationen.

„Gestern waren wir mit unseren Partnern in einem Dorf, wo sie Nahrungsmittel, Decken und Hygiene-Kits verteilten. Wir dachten, wir müssten die DorfbewohnerInnen sensibilisieren, um das Thema psychische Gesundheit anzusprechen, aber es bildete sich schnell eine Schlange vor unserem Zelt: Die Menschen sind sich ihres psychischen Zustands bewusst und wollen daran arbeiten“, erklärt Majdouline Khoulaidi, Leiterin für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung der Evaluierungsmission von Médecins du Monde.

Die Teams von Médecins du Monde bilden unter anderem Fachkräfte aus dem sozialen Bereich und Psychologen aus, die nicht auf die psychologische Betreuung in Notsituationen spezialisiert sind. Denn die Fragen der Betroffenen überschlagen sich: Was kann ich tun, um diese Symptome zu verringern? Ist das normal? Wie lange dauert es, bis es mir besser geht? Wann wird sich mein Kind wieder normal verhalten? Die Schulungen richten sich auch an Lehrerinnen und Lehrer, die im Unterricht mit ungewöhnlichen Situationen konfrontiert sind, da die Kinder sehr schnell wieder zur Schule gehen: Kinder, die sich vom Rest der Gruppe isolieren, stumm bleiben oder Aggressionen zeigen.

Interventionen im Bereich psychische Gesundheit in Notsituationen beinhalten aktives Zuhören und das Erklären von Symptomen: Den Opfern soll vermittelt werden, dass das, was sie fühlen, ’normal‘ ist. Sie sind ängstlich, haben Ess- oder Schlafstörungen, sind schnell gereizt, haben Alpträume, sie selbst oder ihre Kinder. Ihnen aktiv zuzuhören und ihnen die Symptome zu erklären, beruhigt sie.

„Auch wenn es gut gemeint ist, muss man sich emotional zurückhalten und beispielsweise vermeiden, mit der Person zu weinen oder Fragen zu stellen, die ‚retraumatisieren'“, sagt Majdouline Khoulaidi. „Wenn eine Person zum Beispiel über Schlafstörungen klagt, empfiehlt man ihr Atemübungen oder im Falle von Symptomen, die bei Kindern beobachtet werden, erklärt man den Eltern, wie wichtig Routine ist. Auch wenn die Familie auf der Straße lebt, manchmal nicht einmal ein Zelt hat, in dem sie Schutz finden kann, ist es wichtig, die Schlafenszeit, die Spielzeit beizubehalten. Dadurch wird das Angstniveau eingedämmt und verhindert, dass sich der Zustand verschlechtert“. Die Psychologin führt weiter aus: „Man sieht 10-jährige Kinder, die sich zurückentwickeln, wieder ins Bett machen oder 12-, 13- oder 14-jährige Kinder, die eine starke Bindung an ihre Mutter zeigen. Man sieht auch selektiven Mutismus, bei dem das Kind nur noch mit einer einzigen Person spricht, oder auch aggressives Verhalten von Kindern gegenüber ihren eigenen Eltern“.

Ein akuter Stresszustand ist also normal und kann nach einem Ereignis wie dem Erdbeben in Marokko bis zu vier Wochen andauern. Er muss jedoch jetzt behandelt werden, da sich sonst intensivere Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln können, die eine viel längere Behandlung erfordern. Je nach Vorgeschichte der Personen wird nach der Notfallphase mindestens ein Jahr lang eine psychologische Betreuung erforderlich sein. Bei Personen, die sich bereits vor dem Erdbeben in sehr verletzlichen Situationen befanden – und daher unter stärkeren Symptomen leiden – wird die psychosoziale Betreuung mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Majdouline Khoulaidi fügte mit einer optimistischen Note hinzu: „Wir müssen die große Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung hervorheben, ob Männer, Frauen oder Kinder, aber auch die große Solidarität, die die Opfer entwickelt haben, um sich gegenseitig zu unterstützen.